Heile dein Nervensystem
Innere Unruhe, Herzrasen, Kopfschmerzen, Angstwellen, Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit, Schlafstörungen, Kiefer-, Nacken-, Rückenschmerzen, Atembeschwerden, Verdauungsprobleme, Bauchschmerzen, Selbstzweifel und -kritik, Nervosität...
Kennst du das?
Wenn du ein Mensch bist, hast du hier mit “ja” geantwortet, denn all diese Dinge gehören zum Menschsein dazu. Tatsächlich wurden wir dazu designt, diese Dinge zu empfinden. Denn diese Empfindungen sind unsere instinktiven Reaktionen, die dann auftreten, wenn unser Nervensystem eine Gefahr erkannt hat.
Wenn vor uns ein Löwe steht, dann weiß unser Nervensystem, dass gerade echt kein guter Moment ist, um vernünftig aufs Klo zu gehen, zu schlafen oder zu entscheiden, was es zu Abend gibt. Viel wichtiger ist es, das Blut nicht in die Verdauungsorgane und unseren Neocortext zu pumpen, sondern in Beine und Arme, um uns zu wappnen für Flucht oder Angriff. Alles andere ist gerade mal komplett egal.
Das Hauptanliegen unseres Nervensystems* ist unsere Sicherheit, unser Überleben.
“Aber Marlene,” denken womöglich einige von euch gerade, “es ist ja nicht so, als träfen wir jeden Tag auf Löwen.” Stimmt. Das Faszinierende ist: Unser Nervensystem sieht zwischen einer Bedrohung unsere Körpers (aka der Löwe) oder unseres Geistes (ein wütender Boss) keinen Unterschied und reagiert GENAU GLEICH.
Denk mal zurück, wann du das letzte Mal Stress empfunden hast, war da ein Löwe da? Vermutlich sah dieses Szenario eher wie eines der Folgenden aus: Du hast auf dein Bankkonto geschaut und schon fing dein Bauch an sich zu verkrampfen. Du hattest eine wichtige Projektabgabe auf der Arbeit oder ein Examen, das näher rückte und schon ratterte dein Kopf und ließ dich nachts vor Nervosität nicht schlafen. Du hattest eine Auseinandersetzung mit deinem*r Partner*in und dein Herz schlug dir hoch bis in die Kehle. Der Körper reagiert instinktiv auf diese Stressauslöser, da das Nervensystem basierend auf der Vergangenheit diese als Bedrohung abgespeichert hat.
Wohingegen momentärer Stress unserem Schutz dient und zum Leben dazu gehört, ja tatsächlich unsere Evolution fördert, ist es nicht notwendiger Bestandteil des Menschseins, dass diese Empfindungen andauern, Stress also chronisch wird. Wie ein Plattenspieler, der versucht, eine kaputte Platte abzuspielen, steckt unser Nervensystem dann in einem konstanten Gefahrenloop fest. Es kann hier nicht mehr zur Homeostase zurückkehren - dem Zustand, den unser Körper braucht, um sich zu erholen und zu heilen. Anstattdessen werden unsere Schutzmechanismen hochgefahren und wir sind in einem konstanten Stresszustand - bewusst oder unbewusst.
Das Erschreckende: Eine aktuelle Studie zum Thema Stress in Deutschland von der TK zeigt, dass zwei Drittel der deutschen Bevölkerung “sich mindestens manchmal gestresst {fühlt} - mehr als 26 Prozent sogar häufig”. 2013 lag diese Zahl noch bei 20%. Eine weitere Studie fand heraus, dass “In Europa und auch in Deutschland {...} fast 60% der Bevölkerung von einer neurologischen Erkrankung betroffen” sind.
Die Menschheit ist dabei, zu verlernen, wie man Stress abstellt und ist dauerhaft gestresst. Dies bedeutet, dass unser Nervensystem seinen Boden (die Homeostase) nie erreicht, es kommt nicht mehr zur Ruhe und kann sich nicht mehr regenerieren. Und genau dann werden wir anfällig für alle möglichen Erkrankungen.
Unser Nervensystem ist nicht nur entscheidend für die Entwicklung von Krankheiten und wie es unserem Körper geht. Es ist der Zustand unseres Nervensystems, der beeinflusst, welche Entscheidungen wir treffen, was wir essen, wo wir leben, wie wir kommunizieren, welche Hobbies wir haben, wie wir anderen gegenüber auftreten und welchen Beruf oder Partner wir wählen.
Wirklich, lies das noch einmal. Unser Nervensystem liegt and der Wurzel von allem.
Ein Beispiel: In der Grundschule war ich in einem Theater mal Gabi von TKKG. “Tarzan pass auf, hinter dir” war der Satz, den ich sagen sollte, in einem Moment, wo vermeintlicher Tarzan vermeintlich angegriffen wurde. Die Szene passierte so schnell, dass ich nicht geschaltet habe und den Satz sagte, als der Kampf schon vorbei war. Die Klasse hat gelacht. Seither war ich nie wieder in irgendeiner Theaterklasse. Meine Entscheidung, nicht mehr Theater zu spielen, liegt darin begründet, dass mein Nervensystem, in dieser vergangenen Situation feststeckt. Die Scham und die Enttäuschung über mich selbst, die ich damals empfand in Form von Hitze im Gesicht, ist nach wie vor in meinem Körper. Bis dato fällt es mir sehr schwer, zu schauspielen, selbst wenn ich noch nicht mal auf der Bühne stehe. Alleine der Gedanke daran, etwas theatralisch darzustellen, lässt mein Herz schneller schlagen. Und ich setz noch einen drauf: andere Leute performen zu sehen und zu bezeugen, wenn jemand einen “Fehler” in der Performance macht, bringt die Röte direkt wieder in mein Gesicht und ich guck dann lieber weg. Und das war nur ein kleines Beispiel.
“Ok, ok, Marlene wir verstehen es: es ist wichtig, dass wir uns mit unserem Nervensystem auseinandersetzen und lernen, wie wir es wieder erden können. Schön und gut, aber wie machen wir das?”
Viele Wege führen nach Rom: Yoga, Meditation, Sport, Therapie, Coaching, Atemübungen, Tapping,... All diese Tools haben ihre Berechtigung in der Stressbewältigung. Ich möchte heute allerdings über einen Weg schreiben, der genauso instinktiv abgerufen werden kann, wie die ursprüngliche Stressreaktion selbst.
Richtig, genauso wie der Körper instinktiv und voll autonom, den Herzschlag verschnellert, den Atem anhält, die Verdauung stoppt, seine Temperatur hebt oder senkt und den gesamten Körper anspannt, genauso hat der Körper einen angeborenen Mechanismus, diese Spannung wieder loslzulassen. Er wurde uns nur schlicht und weg abtrainiert.
Hast du schon einmal erlebt, dass dein Körper angefangen hat zu zittern? Vielleicht war deine Stimme mal zittrig, oder vor Nervosität hat das Blatt in deinen Händen vibriert. Vielleicht hattest du mal einen Unfall und hast danach geschlottert, oder deine Beine haben gezittert nachdem du Sex hattest.
All dies sind weder Symptome von Stress, noch sind es reine Ermüdungserscheinungen. Dies ist unser natürlicher Reflex, um unser Nervensystem zu regulieren. Er wohnt allen Säugetieren inne: wann immer ein Tier, sich zu stark bedroht fühlt - wenn Flucht und Angriff nichts mehr nützen - dann aktiviert sich automatisch eine Schockstarre. Diese dient einerseits dazu, immobil bzw. Tot zu wirken, sodass der Angreifer das Interesse verliert. Andererseits werden in diesem Zustand Hormone freigesetzt, die die Schmerzempfindlichkeit senken, den Körper quasi betäuben. Um wieder in Bewegung zu kommen, zittert sich der Organismus buchstäblich die Starre vom Leib.
Als kleine Erinnerung: nicht nur wenn unser Körper keinen weiteren Ausweg mehr sieht, sondern auch wenn unser Kopf denkt “Ich kann das nicht, ich kann hier nichts bewirken, das bringt nichts”, entsteht eine Starre in uns. Sie ist dann weniger sichtbar, wie in der obigen Beschreibung, nichtsdestotrotz ist sie da und führt zu langfristigen Schäden des Nervensystems, wenn diese Energie im Körper bleibt.
Bottom-line: wenn du dich das nächste Mal beim Zittern ertappst, lass es zu! Denn dies hilft deinem Nervensystem seine Balance wieder zu finden.
Du kannst dieses Zittern auch wieder erlernen durch eine Technik mit dem sehr drögen Namen TRE® (Tension & Trauma Release Exercises). Erfunden von Dr. David Berceli sind diese eine Reihe an Übungen die unser neurogenes Zittern sicher und kontrolliert anregen.
Autorin: Marlene Zehnter